ZEIT FÜR ZEITZ

Ein Gespräch mit Dr. Barbara Steiner,
Direktorin und Vorstand der Stiftung Bauhaus Dessau
über das „Sachsen-Anhalt-Projekt“
für ein Neues Europäisches Bauhaus,
die Stadt Zeitz und eine realistische Fiktion

Sachsen-Anhalt hat Ende Januar 2022 einen Antrag im Rahmen der EU-Initiative Neues Europäisches Bauhaus (NEB) eingereicht. Die Stiftung Bauhaus Dessau ist neben der Hochschule Anhalt, der Fraunhofer Allianz Bau, der Stadt Zeitz und anderen einer der Netzwerkpartner für das „Sachsen-Anhalt-Projekt“. Warum sind Sie dabei?

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Dr. Barbara Steiner: Die Initiative der EU-Kommission bezieht sich bereits im Namen auf das historische Bauhaus. Schon deshalb war es für uns Verpflichtung und Herausforderung, in das Netzwerk einzusteigen. Aber das Vorhaben steht auch in der Tradition des Bauhauses Dessau: sich aktiv in gesellschaftliche Herausforderungen hineinzubegeben und Gegenwart und Zukunft mitzugestalten. Ergänzt durch die Frage: Wie kann ökologische und soziale Transformation im Rahmen des „Green Deal“ bis spätestens 2045 gelingen, wie können neue Energiequellen erschlossen, umweltfreundliche Industrien etabliert und eine neue nachhaltige Lebensweise zu unser aller Alltag werden?

Wie spiegelt der NEB-Antrag den ganzheitlichen Ansatz des historischen Bauhauses wider?

Dr. Barbara Steiner: Kunst, Wissenschaft und Technik zusammendenken; Forschung, Lehre und Praxis zu verbinden, das zeichnet das Bauhaus aus. Ein Experiment. Von je her. Das spiegelt sich im „Sachsen-Anhalt-Projekt“. Die jeweiligen disziplinären Hintergründe der Netzwerkpartner werden in unserem Projekt an vielen Punkten absichtsvoll überschritten. Naturwissenschaftlich-technisch-künstlerisch-design-architekturspezifische Ansätze paaren sich in sechs Arbeitspaketen unter- und miteinander neu und immer wieder anders. Ihre Klammer: der Strukturwandel, der Kohleausstieg und seine Folgen – mit Blick auf Zeitz.

Was hat Zeitz als „Fallstudie“ für den Antrag qualifiziert?

Dr. Barbara Steiner: Zum einen sind da die noch immer sichtbaren wirtschaftlichen und sozialen Folgen vergangener Strukturwandelprozesse der 1990er-Jahre, die in Zeitz zur Abwicklung traditionsreicher Industriebetriebe und zum Verlust tausender Arbeitsplätze geführt haben. Zum anderen werden sich kommende Veränderungen stark auswirken, wie der Ausstieg aus der Kohleverstromung und die Schließung des letzten Tagebaus Profen. Das bedeutet eine tiefgreifende Transformation der vorhandenen energieintensiven Industrien. Es sind Herausforderungen, vor denen viele Regionen in Europa stehen. Zudem finden sich hier bereits wesentliche Voraussetzungen für eine vielversprechende Entwicklung im Strukturwandel: das Integrierte städtebauliche Entwicklungskonzept, erprobte Beteiligungsstrategien, eine Stadtregierung mit Weitblick samt engagierter Verwaltung und eine strategische kommunale Liegenschaftspolitik. Nicht zuletzt gibt es kreative Investoren, deren Vorhaben impulsgebend wirken können. Und dann sind da die vielen Engagierten, Mutigen, nach vorn Schauenden und deren zukunftsgewandte Projekte, die in Zeitz bereits beeindruckend wirken. Kurzum: Viel Potenzial! Letztlich sind es immer die engagierten Menschen an einem Ort, die Veränderungen voranbringen.

Sie sprechen zuweilen von „generischer Partizipation“. Was ist das eigentlich?

Dr. Barbara Steiner: Es gibt so viele Partizipationsmodelle, die sich trotz aller Bestrebungen am Ende nicht mit dem Ort verbinden, weil die Bedingungen für Beteiligung nicht stimmen. Generische Partizipation kommt aus dem Ort heraus und speist sich aus den dort gegebenen Bedingungen. Und diese sind in Zeitz eben sehr günstig. Darauf wollen wir aufsetzen. Das ist unser Weg …

… der auch ein neues Denken einfordert?

Dr. Barbara Steiner: Unbedingt!

Ein Beispiel?

Dr. Barbara Steiner: Laut städtebaulichem Entwicklungskonzept empfinden Zeitzer*innen den Leerstand, die Ruinen in den Straßen als belastend. Als Stiftung Bauhaus Dessau haben wir uns gefragt: Kann man die Ruine nicht als wertvoll und als Ressource denken? Und das in vielfacher Hinsicht. Etwa als Rohstofflager im Sinne von Kreislaufwirtschaft, Materialwiederverwendung und -wertung? Das ist ein großes Thema in der zeitgenössischen Architektur. Auch mit Blick auf den unglaublichen Improvisationsgeist in der ehemaligen DDR, damals entstanden aus dem akuten Materialmangel heraus, lässt sich lernen: Was lässt sich daraus machen? Und natürlich haben die Gebäude Wert im Sinne der städtischen Identität. Mit der „Zitza“ und der „Nudel“ verbinden Zeitzer*innen auch ihre Geschichte.

Die Stiftung Bauhaus Dessau will in Zeitz mit unkonventionellen Ideen und viel Mut zum Experiment aktiv werden. Welche Rolle spielen dabei die so genannten Bauhaus Agent*innen?

Dr. Barbara Steiner: Hier geht es um eine kreative Kooperation mit Zeitzer Schulen. Wir wollen den Gedanken des Neuen Europäischen Bauhauses mit neuen Bildungsinhalten, neuen Fragen und Methoden zu den Kindern und Jugendlichen in Zeitz tragen.

Wie geht es weiter?

Dr. Barbara Steiner: Was den Antrag bei der Europäischen Kommission betrifft, heißt es jetzt erst einmal Warten, im besten Fall auf einen positiven Bescheid aus Brüssel. Natürlich haben wir Respekt vor den Erwartungen, die wir geweckt haben. Aber es gilt auch: Der Weg ist das Ziel.
Auch deshalb unterstützt aktuell Sachsen-Anhalt das Netzwerk für das „Sachsen-Anhalt-Projekt“ im Rahmen einer Anschubphase bei ersten Projekten. Wir hoffen, dass die Ideen des Neuen Europäischen Bauhauses in Sachsen-Anhalt auch danach ihre Fortsetzung finden können.

Wo sehen Sie Zeitz in zehn, sagen wir 20 Jahren?

Dr. Barbara Steiner: In unserem Netzwerk haben wir eine „realistische Fiktion“ zu einem geglückten „Sachsen-Anhalt-Projekt“ in Zeitz entwickelt. Und die liest sich auszugsweise so: „In Zusammenarbeit mit europäischen und internationalen Partnern trieb das Netzwerk Sachsen-Anhalt über Jahre gemeinsame Aktivitäten zur Sicherung einer nachhaltigen Lebenswelt für künftige Generationen voran. Gemeinsam gelang es, eine Gesetzgebung zur Transformation energieintensiver Industrien zu erreichen und damit den Weg zur Klimaneutralität Europas zu ebnen.“ Neue Unternehmen mit Spezialisierungen zur Wiederverwendung von Materialien und die Produktion neuer Baustoffe unter Einbindung neuer Technologien sind gegründet. Ein genossenschaftliches Wohnquartier als sozioökonomischer Modellversuch interessiert Menschen aus aller Welt. Und außerschulische kulturelle Bildung ist Standard im Bildungsbereich … Am Ende des Textes heißt es: „Die Einwohner*innenzahl hat sich in Zeitz seit den 2020er-Jahren auf 60.643 verdoppelt.“ Da wollen wir als Netzwerk mit der Stadt Zeitz hin.

Vielen Dank! Das Gespräch führte Cornelia Heller.

Netzwerk „Sachsen-Anhalt-Projekt“ im Rahmen der EU-Initiative Neues Europäisches Bauhaus

  • Hochschule Anhalt, Fachbereich Architektur / Fachbereich Design, Dessau-Roßlau
  • Stiftung Bauhaus Dessau, Dessau-Roßlau
  • Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, Halle (Saale)
  • Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle (Saale)
  • Forum Rathenau e.V., Bitterfeld-Wolfen
  • Fraunhofer Institute in der Allianz Bau
  • Kompetenzzentrum Stadtumbau in der SALEG Sachsen-Anhaltinische Landesentwicklungsgesellschaft mbH, Magdeburg
  • Stadt Zeitz und das Projektbüro „Stadt der Zukunft Zeitz“, Zeitz

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